Dehio Brandenburg, 2012, S. 46 ff.

Ev. Stadtpfarrkirche St. Nikolaus, ehem. Wallfahrtskirche Heilig-Blut.
Bedeutende gewölbte dreischiffige Backsteinhallenkirche/Stufenhalle. Der
gestreckte einschiffige Chor mit 5/10-Schluss außen ehem. von niedrigem,
kreuzrippengewölbtem Umgang (Prozessionsweg) umfangen, durch den die
beiden zweijochigen, östl. von zweigeschossigen Kapellen begleiteten
Querschiffarme miteinander verbunden waren.
Baugeschichte. Einige Fragen zur Baugeschichte noch ungeklärt. In
Westjoch und Westfassade integriert der sorgfältig gemauerte
querrechteckige Backsteinturm des Vorläuferbaus (1384 bis 1390er Jahre)
mit kreuzgratgewölbter Turmhalle (1396 Ablass zur Kirche).
Wölbungsansätze an der Turmostwand zeigen, dass auch der zugehörige
Saalbau gewölbt angelegt war. Der Chor dieser ersten Wallfahrtskirche mit
5/10-Schluss 1987–89 östl. der Vierung ergraben und der Grundriss im
Chorboden der Kirche gekennzeichnet. Beginn des Neubaus erst um 1445.
Eng verwandt dem in den 1420er Jahren beg. Neubau des Doms zu
Stendal. Chor mit liturgischem Umgang, Querhaus und Verbindungsgang
zum sog. Prälatenhaus in einem Zug errichtet und 1453/54(d) überdacht,
1459 mit Einbau von Glasfenstern fertig gestellt; Reste roter Außenfassung
erhalten. Das breite, nur dreijochige Hallenschiff jünger, um 1460 Teile des
nördl. Seitenschiffs und der Westfassade beg., nach Bauunterbrechung
vermutlich unter Förderung des Havelberger Bischofs Johann v.
Schlabrendorff (1501–20) bis 1520 vollendet. Urspr. wohl mit aufwendigerem
Westabschluss konzipiert (Wartesteine am Außenbau), schließlich
reduzierte, turmlose Fertigstellung unter Einbeziehung des Westturms des
Vorläufers, vermutlich wegen der bereits schwindenden Bedeutung der
Wallfahrt. Nach verlorener Inschrift die Langhausgewölbe 1525 geschlossen.
Der Außenbau bestimmt von den großen profilierten, bis zu siebenteiligen
Maßwerklanzetten (meist nachträglich verkleinert) zwischen gestuften
Strebepfeilern. Kranzgesims mit Vierpassfüllungen. Am Chor
Sockelgeschoss mit Rundbogennischen, die Strebepfeiler von Spitzbögen
durchbrochen. Am deutlich niedrigeren Langhaus die Strebepfeiler schwerer
mit Nischengliederung, z. T. mit Maßwerkfüllungen. In den Stirnwänden des
Querhauses je ein Portal mit reich profiliertem Gewände, große siebenteilige
Fenster sowie vortretende oktogonale Treppentürmchen. Auf der Südseite
das Portal von Figurennischen gerahmt; die Statuen von Christus und Maria
(Marienkrönung) hier in Zweitverwendung aufgestellt, Kopien, Originale
heute in der Kirche (Ausstattung); blendengeschmückter Pfeilergiebel
(gekürzt), um 1520 (Alt Krüssow, Heiligengrabe). Im Osten des Nordarms
der Zugang wohl seit 1811 für Familiengruft Saldern-Plattenburg. Die
schmucklose Westfassade von Planwechseln gekennzeichnet. Die schmale
Turmfront des Vorgängerbaus mit reich profiliertem Rundfenster gut
erkennbar; die zugehörigen spitzbogigen Schallöffnungen z.T. vermauert.
Das zweipfortige Westportal in Sandstein A.15.Jh. eingesetzt, im Türfeld
Konsolen und Baldachine, von zugehörigen Figuren nichts bekannt.
Abschluss der Fassade durch viergeschossigen Renaissancegiebel von
1591. Dahinter auf dem Dachfirst hölzerner Dachreiter von 1733. – Am nördl.
Querschiffarm der gedeckte spätgotische Schwibbogengang in Tradition
gotischer „Bischofsgänge“, mit stichbogigen Fensterpaaren in ebensolchen
Nischen. Urspr. Verbindung von der Empore zum jetzt bis auf Reste der
Keller verschwundenen sog. Prälatenhaus (1724 zum Herrenhaus der von
Saldern ausgebaut) nördl. der Kirche.
Innen. Lichter, weiter Raum mit leichten, gebusten Kreuzgewölben. Im Chor
schlanke, reich profilierte Fenster über Sockelgeschoss mit rundbogigen
Nischen; die vom Boden aufsteigenden Gewölbedienste Bad Wilsnack in
Höhe des geböschten Abschlusses der Sockelzone unterbrochen durch
Sandsteinkapitelle für kleine Apostelfiguren aus Stuck, vermutlich 19.Jh. Die
Pfeiler des Querschiffs rund, geschlämmt, mit vorgelegten
Backsteindiensten. Die Ostannexe zweigeschossig, die unteren Räume
kreuzrippengewölbt: am Nordarm Sakristei und Nebenräume mit Piscine aus
Stein und mittelalterlichen Wandschränken; am Südarm die
Wunderblutkapelle mit Stuckkapitellen (rest. 1992) und mittelalterlichem Altar
mit Mensa; darüber jeweils Emporen. Im Langhaus wechseln die Formen der
Fenster und Profile. Die Pfeiler ebenfalls rund, aber durch Taustäbe,
Felderteilung aus Stabwerk, durch Wimperge mit ornamentalem Schmuck
sowie gesinterte Steine auf das reichste belebt. Unter den Fenstern paarige
Rundbogennischen. Am zweiten Nordpfeiler von Westen prächtige Nische
mit lebensgroßem Standbild (Ausstattung). An der Westwand des südl.
Querschiffs Rest eines Wandgemäldes, Christophorus, in nördl. Nische der
Ostwand Anna Selbdritt, 15.Jh. Glasmalereien, nach 1467, die Reste eines
ehem. größeren Bestandes 1884–89 rest. und in den Fenstern des
Chorpolygons zusammengesetzt. Erneut rest. 1987–94. Stilistisch verwandt
einer auch im Brandenburger Dom, in Werben an der Elbe und St. Jakobi in
Stendal tätigen mitteldeutschen Werkstatt. Im Mittelfenster u. a.
Kreuzigungsgruppe und Mondsichelmadonna, im Fenster links daneben
Szenen aus der Erasmus- und aus der Nikolauslegende sowie mehrere
ganzfigurige Heiligendarstellungen; rechts Anbetung der Könige, Michael als
Seelenwäger, Darbringung sowie Himmelfahrt Mariens und Maria
Himmelskönigin. Im Nordquerhausfenster 1911 eingefügt weitere zu dieser
Gruppe gehörende Scheiben sowie Scheiben mit höfischem Motiv von
Wappenbanner tragenden Tieren, in der deutschen Glasmalerei einmalig,
Reste einer Stiftung des niederländischen Adligen Frank van Borselen von
1459, Glasmaler Z. van Opbueren aus Den Haag.
Ausstattung. Reiche Ausstattung vornehmlich des 15.Jh. Auf dem Hauptaltar
drei Schnitzretabel übereinander gestellt. Der kleinere als Predella
verwendete Schrein vom frühen Typus der Reliquienaltäre, wohl noch 14.
Jh., mit fünf vorzüglichen offenen Maßwerkbögen; die darin aufgestellten
Figuren, u.a. Mondsichelmadonna und zwei Reliquienbüsten, nicht
zugehörig, ca. 1380. Darüber großes, qualitätvolles Schnitzretabel um 1390,
unter übereckgestellten Maßwerkbaldachinen im Schrein und in den Flügeln
Madonna und die zwölf Apostel. Der bekrönende, etwas kleinere und
bescheidenere Schnitzaltar 1488 erwähnt, im 19. Jh. überfasst; im Schrein
Madonna und zwei Heilige, seitlich und in den Flügeln in zwei Reihen
weitere 16 Heilige. Als Abschluss kleines Kruzifix, E.15.Jh. Hölzerne Kanzel
um 1670 mit geschnitzten Allianzwappen v. Saldern/v. Bismarck, der
geschnitzte Kanzelkorb auf gewundener Säule, schöner Schalldeckel.
Prachtvolle Sandsteintaufe A.15.Jh. achteckig in Kelchform, um den Fuß
Kranz von Wappenschilden, die Kuppa mit kräftig profiliertem Maßwerk.
Architektonisch gegliederter Sandsteinleuchter, wohl noch 14.Jh. – In der
Kirche verteilt mehrere Sandsteinfiguren um 1400, wohl vom Vorgängerbau,
der Werkstatt des Havelberger Lettners zugeschrieben: Standbild des hl.
Nikolaus, bemalt, bedeutendes Zeugnis der Großplastik um 1400; die
Identifikation mit Johann v. Wöpelitz († 1401), Havelberger Bischof und
Förderer des Baus, nicht zutreffend. Ikonographisch interessant Maria mit
zwölfjährigem Christus. Qualitätvoller Christuskopf (jetzt im
Wunderblutschrein); Figur des hl. Bavo; zwei Figuren einer Marienkrönung
(vom Südportal). An Innenwestwand Nordquerhaus Gedenkstein für die
Pfarrer Joh. Cabbuez († 1412), Entdecker des Wunderbluts, und Joh.
Bielefeld († 1410), nach 1412 (ehem. östl. Außenmauer, dort heute Kopie);
in segmentbogiger, von Inschrift umzogener Nische die feingezeichneten
knienden Relieffiguren der beiden Pfarrer, zwischen sich eine Monstranz
empor haltend; dahinter Spruchbänder. – Zwei Sandsteinfiguren um 1470,
Schmerzensmann und Madonna, ehem. am Choreingang, wohl
Bildhauerwerkstatt des Magdeburger Lettners (vgl. Reliefs in Burgkapelle
Ziesar). – Gotische Schnitzfiguren, hl. Olav, Eiche, um 1470/80, evtl. Import
aus Skandinavien. Zwei sitzende Apostelfiguren, um 1400, 2011/12 rest.,
vielleicht Rest einer monumentalen Ölbergruppe (seit 17. Jh. auf einem
Vorsprung der Westwand, dort jetzt Kopien). Im Chor Figuren des Christus in
der Rast und Schmerzensmutter, um 1500. In der Wunderblutkapelle
Wandschrank mit bemalten Türflügeln (Wunderblutschrein), 2.H.15.Jh.
Außen über gemaltem Backsteinsockel Gregorsmesse, innen Dreieinigkeit
und Ecce homo. Auf der Empore darüber drei hölzerne Prunksärge der
Familie v. Saldern (17./18.Jh.), evtl. von H. J. Schultz, Havelberg. – Einige
figürliche Grabsteine 17.Jh., darunter für Lucas Lindberg d.J. und seine Frau
im nördl. Kreuzarm. Auf der Orgelempore zwei prächtige hölzerne
Epitaphien, rechts des Mathias Friedrich v. Saldern (†1680) mit Ölporträt des
Verstorbenen zwischen weinenden Engeln, links Friedrich August v. Saldern,
1729, im geschmückten Aufsatz Porträtmedaillons des Verstorbenen und
seiner Angehörigen, 2010 rest. Wappenstein des Burchard v. Saldern
(1568–1635). Orgelprospekt 1782, A. H. Rietze, Magdeburg, Werk von F. H.
Lütkemüller, Wittstock, 1860 (erweitert 1884). – Glocke von 1471 mit
Pilgerzeichen, größte erhaltene Glocke Brandenburgs, 1552–1921 im Turm
des Berliner Doms, seit 1929 im Märkischen Museum, Berlin. Im
Nordquerarm verschiedene mittelalterliche Objekte als Zeugnisse der
Wallfahrt ausgestellt.